Wie wichtig ist Gendermedizin?

Für die Fachzeitschrift Pharma Relations 07/22 durften wir uns zum Thema Gendermedizin mit einigen Statements beteiligen. Unser Geschäftsführer Marco Dröge hat folgende spannende Fragen beantwortet.

Wie beurteilen Sie den Stellenwert dieses Themas bei Ihren Kunden aus der Pharmaindustrie?
Aus unserer Sicht gewinnt das Thema Gendermedizin immer mehr Relevanz. Schließlich spielt das Geschlecht eines Menschen in allen Bereichen rund um die Gesundheit eine wichtige Rolle. Auch die klinische Datenbasis für Geschlechterunterschiede bei der medikamentösen Therapie wird immer breiter. Die Geschlechterunterschiede beeinflussen die Entstehung von Erkrankungen, wie sie diagnostiziert werden, wie sie verlaufen und behandelt werden. Jeder von uns, und damit meine ich nicht nur die Pharmaindustrie, profitiert davon, geschlechterspezifische Unterschiede zu kennen und auch die spezifischen Symptome von Erkrankungen zu erkennen. Die Gendermedizin ist ein sich weiter entwickelter Wissenschaftsbereich, der das Potenzial hat, die Gesundheitsversorgung für uns alle zu individualisieren und somit zu verbessern. Es ist kein Geheimnis, dass Frauen manchmal andere Symptome, beispielsweise bei einem Herzinfarkt, als Männer aufweisen und teilweise eine andere Therapie brauchen. Auch die Genetik spielt eine ausschlaggebende Rolle. Durch das zweite X-Chromosom können Frauen (Frauen zwei X-, Männer ein X- und Y-Chromosom) viele Gendefekte ausgleichen. Deshalb leiden Männer auch viel häufiger an Erbkrankheiten, da diese über das X-Chromosom vererbt werden. Obwohl diese Erkenntnis nicht neu ist, wurde sie viele Jahre lang nicht ausreichend ernst genommen und sogar belächelt.

Beschäftigen sich die Pharmaunternehmen Ihrer Erfahrung nach zunehmend auch mit gendermedizinischen Fragestellungen?
Den Pharmaunternehmen ist mittlerweile bewusst, dass die Gendermedizin ein wichtiger Bestandteil für eine individualisierte Behandlung ist, damit die bestmögliche Gesundheitsversorgung gewährleistet werden kann. Seit einigen Jahren muss die
Pharmaindustrie für alle neuen Medikamente eine geschlechterspezifische Auswertung ihrer Zulassungsstudien einreichen, d.h. die Geschlechterverteilung ist so zu wählen, dass mögliche geschlechterspezifische Unterschiede bei der Wirksamkeit des Arzneimittels überhaupt festgestellt werden können. Die pharmazeutische Gegenüberstellung der Geschlechter dient also nicht nur der Identifikation der Erkrankungsprävalenzen, sondern auch der Merkmale für das Risiko. Dafür muss die Gendermedizin noch stärker als bisher in der Aus- und Weiterbildung von HCPs und in der wissenschaftlichen Forschung etabliert werden.

Marco Dröge, Geschäftsführer face to face GmbH

Haben Sie schon Fortbildungsmaßnahmen konzipiert, bei denen gendermedizinische Aspekte eine wichtige inhaltliche Rolle spielen?
In Deutschland spielt die geschlechterspezifische Medizin leider immer noch eine untergeordnete Rolle. Es gibt nur ein sehr begrenztes Angebot für genderspezifische Themen. Laut einer Studierendenbefragung des Deutschen Ärztinnenbundes e.V. gibt es dafür verschiede Gründe, wie geringe zeitliche Ressourcen, wenig Interesse der HCPs sowie fehlende Transparenz über die Lehrinhalte.

Wir haben namhafte Partner mit denen wir zu diesem Thema im Austausch stehen und unsere Kunden dahingehend beraten. Auch wenn wir bis jetzt, aufgrund der mangelnden Nachfrage, noch keine Fortbildungsmaßnahme konzipiert haben, haben wir uns zum Ziel gesetzt, den Ärzten die nachgewiesenen Kenntnisse zu geschlechterspezifischen Unterschieden attraktiv und adäquat zu vermitteln. Es ist wichtig einen integrativen Ansatz zu wählen, da die Fortbildungsmaßnahmen sich überwiegend an schon tätige Ärzte richten. Mit Hilfe von zertifizierten Fortbildungen, Zusatzqualifikationen und Lernplattformen werden wir Wissenslücken schließen und Möglichkeiten für die spezifische sowie individuelle Versorgung aufzeigen können, damit der Arzt sich sicher im Umgang mit der genderspezifischen Diagnostik und Therapie fühlt. Prävention und Gesundheitsförderung müssen neu gedacht werden.

Wie beurteilen Sie den Stellenwert dieses Themas in der Ärzteschaft? Erwarten oder fordern Ärzte heutzutage möglicherweise von der Pharmaindustrie, dass diese in ihren Fortbildungsangeboten auf solche Fragestellungen eingeht?
Derzeit ist die Nachfrage diesbezüglich noch nicht groß. Vor zwei Jahren wurde eine Interviewreihe bei niedergelassenen Ärzten im Auftrag des Institutes für Gendergesundheit e.V. durchgeführt. Das Ergebnis zeigte, dass männliche Ärzte dem Thema maximal zu
Marketingzwecken gegenüber offenstehen, junge weibliche Ärzte aber schon offener mit dem Thema umgehen, ältere Ärztinnen dagegen dies als nicht wesentlich erachten. Interessant ist auch, dass Deutschland im Kontext der geschlechterspezifischen Medizin im Vergleich zu den Ländern Österreich, Niederlande, Schweden, Kanada, USA sowie Israel als Schlusslicht angesehen wird. Deshalb sollte das Thema Gendermedizin für Ärzte schon im Medizinstudium Teil der Ausbildung sein. Momentan ist es so, dass geschlechterspezifische Unterschiede in der medizinischen Lehre nur sporadisch behandelt werden. Es ist ein zähflüssiger Prozess, die Weiterbildungsordnung zu verändern. Die Integration in die medizinische Grundausbildung steht also noch in den Anfängen.

Dabei nehmen Fachpublikationen zu geschlechterspezifischen Aspekten der Medizin jedes Jahr weiter zu. Und trotzdem fließen sie nur langsam in die Behandlung von Patienten ein, da es in der breiten Masse zu keinen therapierelevanten Unterschieden kommt. Gerade deshalb ist es wichtig, die Ärzte weiter auf dieses Thema zu sensibilisieren.

Wie wir wissen, wird es ab dem Jahr 2025 eine neue Approbationsordnung geben, die geschlechterspezifische Unterschiede in den Lehrplänen des Medizinstudiums vorgibt. Das Ziel ist die Versorgungsqualität zu verbessern, indem geschlechterspezifische Unterschiede identifiziert und vor allem im klinischen Alltag berücksichtigt werden. Deswegen wird auch der Wunsch nach Fortbildungsangeboten wachsen, bei denen die Pharmaindustrie das Thema aufgreifen werden muss.

 

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